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Angst und die Grenzen der Vernunft. Eine pessimistische Überlegung.

Von: Alfred Pfabigan

Der Philosoph Alfred Pfabigan ist Referent an der PPH Burgenland und unterstützt das Kompetenzzentrum Bildung für nachhaltige Entwicklung (Schwerpunkt „Lernraum Natur“) mit regelmäßigen Vorträgen. Er übermittelte uns eine Reflexion über die aktuelle Situation aus philosophischer Sicht, einen Text zum Nachdenken.

Durch digitale Medien verbreitete, auf Unvernunft oder gar auf bewusster Unwahrheit basierende Informationen schüren derzeit kollektive Ängste. Dass wir sie durch Vernunft, Erfahrung und Bildung handhaben können, ist eigentlich ein schöner Gedanke.

Eigentlich.

Da gibt es eine Fabel, die seit der Antike in unzähligen Versionen erzählt wurde und diesen Optimismus relativiert. Die Szenerie ist ein Dorf, das sich irgendwie bedroht fühlt – etwa von Feinden oder von räuberischen Wölfen. Und der Protagonist ist ein Hirtenjunge, der ein wenig außerhalb des Dorfes die Gänse oder Schafe hütet. Eine langweilige Tätigkeit und so gibt er, wie auch immer, aber effizient, Zeichen, dass sich der Feind nähere. Und die Dorfbewohner lassen von ihrer Tätigkeit ab und stürzen herbei. Das macht Spaß! Der Junge bezieht eine kräftige Maulschelle, deren Lerneffekt im Vergleich zu seinem Vergnügen, im Mittelpunkt zu stehen, allerdings gering ist. Und als ihn die Langeweile neuerlich plagt, wiederholt er seine Warnschreie mit der gleichen Wirkung wie beim ersten Mal. Diesmal allerdings wird er kräftig verprügelt.

Und dann kommt der Feind tatsächlich, der Hirtenjunge gibt das vereinbarte Warnzeichen – und die Dorfbewohner ignorieren ihn. Mit schlimmen Folgen für das Gemeinwesen.

Die Rezeption hat die Geschichte moralisch aufgeladen und in das Eck der erzieherischen Kinderliteratur gedrängt. Doch mit der Konzentration auf den Jungen, dessen Altersgenossen etwa beigebracht wird, dass keiner im Ernstfall auf sie hören wird, wenn sie allzu oft übertreiben, ist eine in der Fabel sichtbar werdende tragische Paradoxie im Verhältnis von Vernunft und Angst weggefallen. Sie erschließt sich, wenn wir uns auf die dörfliche Gemeinschaft konzentrieren.  

Dazu eine Vorbemerkung: Der Mensch gilt in der philosophischen Anthropologie als „Mängelwesen“, das zur Kompensation seiner Schwäche gezwungen ist. Arnold Gehlen, der das Schlagwort berühmt gemacht hat, nennt in „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt" (1940) eine breite Palette von Ursachen unserer Schwäche im Naturzustand: Die lange Abhängigkeit nach der Geburt, unsere Instinktdefizite, die beschränkten Möglichkeiten zur Flucht und unser Mangel an körpereigenen Waffen würden uns vergleichbaren anderen Arten unterlegen machen. Die Überlebensfähigkeit der Menschen sei daher an die Fähigkeit gebunden gewesen, ihre Umgebung nach ihren beschränkten Möglichkeiten zu gestalten. Und aus diesem Mangel resultiere auch der Zwang nach jener korrekten, sinnlich - intellektuellen Erfassung der Welt, jener sich ständig steigernden verstandesmäßigen Durchdringung aller Lebensbereiche, die als Urform der „Sofia“ zu verstehen ist.

Doch die Vernunft hat ihre Grenzen und jene Kompensationen, die uns zu den erfolgreichsten Wesen des Erdballs machten, sind mitverantwortlich für einen Konflikt zwischen Angst und Vernunft. Das, was man bei manchen Tieren mit dem Wort „Instinkt“ bezeichnet, jene unbestimmten sensorischen Fähigkeiten, die sie Gefahren wittern lassen, hatten wir nie. In der Moderne mit ihren unzähligen Möglichkeiten einer sich überraschend aktualisierenden Gefahr, wären sie auch überflüssig. Aber das grundsätzliche Problem bleibt und es wird sichtbar, wenn wir den Schwerpunkt der Fabel nicht in dem Fake - News produzierenden Kind sehen, sondern in den handelnden oder passiv bleibenden Dorfbewohnern.

Rund um den ersten Warnruf des Hirtenjungen gab es wohl keine Diskussion – die spontan erfolgende Reaktion des Dorfes war „vernünftig“. Beim zweiten Mal mag es Zweifler gegeben haben, solche, die sagen „Nicht schon wieder!“ Aber wer wäre schon bereit gewesen, eine Warnung zu missachten, nur weil die Reputation des Warners angeschlagen war? Also: Auch die Reaktion auf die zweite Warnung war von Verantwortung getragen und vernünftig. Und jetzt kommen wir zum desaströsen dritten Mal: Wer da geraten hätte, die Arbeit schnell niederzulegen und in voller Montur auszurücken, hätte sich wohl lächerlich gemacht.

Dass es spätestens seit dem Ödipus des Sophokles zu den Kennzeichen einer tragischen Situation gehört, dass sich alle „richtig“ verhalten und dennoch das Schlimme begünstigen, sei nur beiläufig erwähnt. So gigantisch und effizient unsere vernunftbasierten Kompensationssysteme auch sein mögen: Es gibt eine Lücke, die nicht nur in der Fabel ein ganzes Dorf zur Marionette eines kindlichen Scherzes machte, sondern rund um die Ängste vor Unvorhersehbaren einen zwar reduzierbaren, aber nicht ausschaltbaren Konflikt zwischen Vernunft und Gefühl verursacht.


Alfred Pfabigan unterrichtete an den Universitäten Salzburg, Franklin & Marshall (PA), Metz und war von 1993-2013 Professor für Sozialphilosophie an der Universität Wien. Seit 2013 leitet er die „Philosophische Praxis Märzstraße“ (http://alfredpfabigan-philosophischepraxis.at/ueber-uns/ueber-alfred-pfabigan/) Zahlreiche Publikationen, zuletzt Kaiser – Kind – Kleider (Limbus 2019). Sein Buch „Philosophie hilft! erscheint demnächst im Verlag Vito-libro.