Die Philosophin Isolde Charim im Interview mit PH-WIR
PH-WIR: Isolde Charim, Sie sind Philosophin, Publizistin, Kolumnistin und kritische Beobachterin unserer Gesellschaft. Im März 2018 ist Ihr neues Buch erschienen "Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert". Wie kann man „Pluralisierung“ kurz charakterisieren?
Isolde Charim: Pluralisierung – so würde ich es sehen – bedeutet eine diverse, heterogene eben plurale Zusammensetzung der Gesellschaft in religiöser, ethnischer und kultureller Hinsicht.
PH-WIR: Pluralisierung ist ein langfristiger Prozess. Wann und wie hat dieser Prozess der „neuen Pluralisierung“ begonnen?
Isolde Charim: Da es ein schleichender Prozess ist, lässt sich kein genaues Anfangsdatum angeben. Aber die Tendenz hat wohl mit den sogenannten „Gastarbeitern“ begonnen.
PH-WIR: Hängt Pluralisierung mit modernem Kapitalismus und/oder mit Globalisierung zusammen?
Isolde Charim: Ja, das hängt natürlich massiv zusammen – aber nicht ausschließlich. Die Pluralisierung ist Folge moderner Migrationsströme, die vielfältige Ursachen haben – neben ökonomischen etwa auch politische.
PH-WIR: Was macht diese neue Pluralisierung mit uns? Welche Auswirkungen hat sie für jeden von uns?
Isolde Charim: Zunächst einmal verändert die Pluralisierung sowohl unser Selbstverhältnis als auch unser Verhältnis zu anderen, zur Gesellschaft. In beiden Fällen wird die Selbstverständlichkeit dieser Verhältnisse in Frage gestellt. Der Vorgang selbst ist wertfrei – wie die Veränderung aber erlebt wird, ob als Befreiung oder als Bedrohung, ist individuell verschieden.
PH-WIR: Mit Pluralisierung hängt auch ein Trend zur Individualisierung zusammen. Wenn ich verschiedene Optionen habe, bin ich gezwungen autonome Entscheidungen zu treffen, eine Individualität auszubilden. Sie sprechen von einem dritten Individualismus. Was verstehen Sie unter diesem Begriff?
Isolde Charim: Individualisierung gibt es schon seit über 200 Jahren. Unter drittem Individualismus verstehe ich jene neue Form, die speziell durch die Pluralisierung geprägt ist.
PH-WIR: Die Welt ist in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern pluralisiert. Neben Politik und Kultur ist Religion ein wichtiges Feld. Was verändert die „Gleichzeitigkeit der Religionen“?
Isolde Charim: Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Religionen in einem Land verändert die Art, wie man sich auf seine eigene Religion bezieht. Die selbstverständliche Einsozialisierung in eine Religion, die unhinterfragt und prägend für die ganze Gesellschaft ist, wird in Frage gestellt. Es ist heute, wie Charles Taylor gesagt hat: Naiv, im Sinne von direkt und selbstverständlich ist, heute keinen Glauben mehr zu haben. Denn jeder Glaube steht neben anderen Glaubensformen sowie auch neben dem Nichtglauben.
PH-WIR: Sie sagen: „Die vehementeste und erfolgreichste Abwehr der Pluralisierung ist der Populismus“. Hat Pluralismus auch gefährliche Seiten?
Isolde Charim: In dem Zusammenhang ist die Abwehr der Pluralisierung das Bedrohliche und nicht die Pluralisierung selbst. Was man aber sagen muss: Pluralisierung ist ein schwieriger Vorgang, der allen viel abverlangt, und der insofern konfliktträchtig ist.
PH-WIR: Danke für das Gespräch und alles Gute für Ihre weitere Arbeit!