Werte-Bildung. Was Schule und im Speziellen der Religionsunterricht leisten kann und was nicht.

Konstantin Lindner, Professor für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts am Institut für Katholische Theologie der Universität Bamberg war zu Gast an der PPH Burgenland, wir haben mit ihm gesprochen.

PH-WIR: Sie widmen sich in einem Forschungsschwerpunkt dem Thema Werte-Bildung. Das Thema ist derzeit gesellschaftlich und in den Medien sehr präsent. Historisch ist der Begriff aber in der gegenwärtigen Bedeutung gar nicht so alt.

Konstantin Lindner: Ja, wenn wir heute im Bildungszusammenhang von Werten sprechen, ist für die meisten klar, dass es dabei um Orientierungsgrößen geht, die eine Person nutzt, um ihr Leben – im Idealfall – positiv zu gestalten. Und zwar so, dass auch die Mitmenschen, die Gesellschaft und die Umwelt gut leben können. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatte man den Begriff "Werte" vor allem für Messbares verwendet – eine Bedeutung, die wir ja heute auch noch kennen, z.B. wenn es um Aktienwerte geht. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Ökonomisierung voranschritt und die religiös geprägte Wirklichkeitsdeutung immer mehr zu einer Deutungsoption neben anderen wurde, stellte sich zunächst in der Philosophie nach und nach die Frage, wie gesellschaftlich Erwünschtes "produziert" werden kann: Das ehemals vom Göttlichen abhängig gedachte "Gute" erscheint als vom Individuum machbar, es wird zu einem "Wert". Im Zuge dessen hält der Werte-Begriff nach und nach Einzug in philosophische Debatten und kommt im 20. Jahrhundert im wissenschaftlichen und allgemeinen Sprachgebrauch in seiner Orientierungsbedeutung an.

PH-WIR: In Ihrem Vortrag sagten Sie, dass sich der Gebrauch gewisser Begriffe verändere. Heute wird eher seltener von „Moral“ gesprochen, der Begriff wird durch „Ethik“ und eben Werte abgelöst.

Konstantin Lindner: Insbesondere in der wissenschaftlichen Reflexion sind die Begriffe "Moral" und "Ethik" nach wie vor stark präsent und auch bedeutsam. "Ethik" bezieht sich auf die Reflexion von gelebter "Moral", die wiederum das in einer gesellschaftlichen Gruppe anerkannte sittlich Gute charakterisiert. Im Alltagsgebrauch oder in öffentlichen Debatten werden diese Begriffe jedoch immer weniger verwendet – u.a. werden mit "Moral" im alltäglichen Verständnis vielfach Einschränkungen der individuellen Freiheit verbunden. Für eine gelingende Wertebildung sind ethische Reflexionen unerlässlich – z.B. hinsichtlich bestimmter medizinischer Techniken im Zusammenhang mit dem Lebensbeginn. Auf dieser Basis lassen sich u.a. inhaltliche Fundamente für die Auseinandersetzung mit bestimmten Wertefragen gewinnen. Wertebildung meint jedoch mehr als bloße Reflexion, sondern beinhaltet immer auch die praktische Handlungsebene: Denn es geht bei Wertebildung ja darum, dass das Individuum für sich begründet klären kann, ob die eigenen Werthaltungen überarbeitungsbedürftig sind, warum es sich für bestimmte Werte entscheidet und wie diese in gutes Handeln umgesetzt werden können.

PH-WIR: Oft wird erwartet, dass Schule und Unterricht das kompensieren, was Elternhaus oder Gesellschaft verabsäumen. Wo liegen hier die Möglichkeiten, wo die Grenzen?

Konstantin Lindner: Ja, wenn aufgrund einer – meist – schlimmen Tat der "Ruf nach Werten" wieder lauter wird, kommen ganz schnell die Schulen ins Bild, weil man dieser Institution zuspricht, alle Heranwachsenden erziehen zu können. Aus Forschungen wissen wir jedoch, dass die Familie die primäre Sozialisationsinstanz ist – auch hinsichtlich der Werte, die Heranwachsenden wichtig sind. Bis ca. 15 Jahre sind die in familialen Interaktionen angeeigneten Wertvorstellungen hoch stabil. Dann jedoch erweisen sich zunehmend die in einer Gleichaltrigengruppe geteilten Werte prägend: Dabei kann es passieren, dass manche Jugendliche zwischen verschiedenen Gruppen und den damit verbundenen (Werte-)Systemen wechseln, bis sie ihre Orientierung gefunden haben. Schule muss mit diesen außerschulischen Prägefaktoren umgehen, kann jedoch an der ein oder anderen Stelle ebenfalls werteprägend wirken. Der Australier Terence Lovat kann bspw. nachweisen, dass Werte wie Fairness, Mitgefühl oder Verantwortungsbewusstsein dann von Schüler_innen übernommen werden, wenn das Schulklima auch davon geprägt ist. Die Forschungen rund um die "just-community"-Idee bzgl. Schule als "gerechte Schulgemeinschaft" zeigen ähnliche Wirkungen hinsichtlich prosozialer Werte. Das im Rahmen von Religionsunterricht häufig verantwortete "Compassion-Projekt", bei dem Schüler_innen ein Praktikum in einer sozialen Einrichtung absolvieren und ihre Praxiserfahrungen im Unterricht reflektieren, kann ebenfalls dazu beitragen, dass Werthaltungen positiv bestärkt werden.

PH-WIR: Welche Rolle fällt dem Religionsunterricht bzw. dem Ethikunterricht für die Wertebildung zu?

Konstantin Lindner: Wertebildung ist Aufgabe aller schulischen Unterrichtsfächer – nicht nur des Religions- oder Ethikunterrichts. Was diese letztgenannten Fächer jedoch als Spezifikum in die schulische Wertebildung einbringen können, ist zum einen die Option, intensiver zum Reflektieren über eigene Werthaltungen anregen zu können: Dieses Reflektieren gehört zum elementaren Kompetenzbereich von Ethik- und Religionsunterricht. Zum anderen bieten die Inhalte beider Fächer den Schüler_innen Möglichkeiten an, wie verschiedene Werte begründet werden können – philosophisch, ökonomisch oder eben religiös. Gerade letztere Option stellt eine Besonderheit des Religionsunterrichts dar: In diesem positionellen Fach werden aus der Perspektive einer bestimmten Religion heraus Argumentationen zugänglich: Bspw. kann im Verweis auf biblische Stellen die Menschenwürde begründet werden. In der Beschäftigung mit Menschen, die sich aus ihrem Glauben heraus für andere Menschen oder Umweltprojekte engagieren, wiederum wird nachvollziehbar, dass Religion und Glaube Werte und deren Umsetzung stark prägen können. Ebenso sollten die Ambivalenzen religiös begründeter Werthaltungen, die z. B. auch zur Ausgrenzung anderer führen können, im Religionsunterricht thematisiert werden. Beim genauen Hinsehen wird den Schüler_innen dann hoffentlich klar, dass religiöse Begründungen von Werten immer auch für egoistische Zwecke einzelner herangezogen und in ihrem eigentlichen positiven Sinn widerlegt werden können.