Vierunddreißigstes Fragment der Stille
Wenn die Wiederentdeckung der Stille tatsächlich als ein zugleich großes Abenteuer und alltäglichste Erfahrung unserer Zeit gilt, dann stellt sich umso dringlicher die Frage, wie und wo diese in unseren Alltag einzudringen vermag. Oder anders – nämlich aktiv – gefragt, wie wir in diese eintauchen können. Auf eine Suche haben sich zwei Schülerinnen von Lukas Pallitsch gemacht. In Zeiten der Textsortenzentrierung ist es durchaus unzeitgemäß, einen Text über die Stille zu schreiben. Doch wer immer nur im Gefolge der tosenden Zeit dahinschreitet, geht mitunter blindlings an ihren Kernpunkten vorbei. Wie Friedrich Nietzsche, der bekanntlich das Unzeitgemäße suchte, spuren die Geschwister Nike Giefing (2. Klasse Gymnasium Wolfgarten) und Anja Giefing (5. Klasse Gymnasium Wolfgarten) den Weg zu einem „Vierunddreißigsten Fragment der Stille“:
Ich höre keinen Wind, Tiere sind weit und breit nicht zu erkennen, sogar das sonst so präsente Vogelzwitschern bleibt aus. Stille liegt wie ein schwerer Nebel über der gesamten Landschaft. Rund um mich erstreckt sich nur ein weißes Meer. Doch ich höre es nicht rauschen. Wahrnehmen kann ich nur meine Gedankenfetzen. Der eisige Wind streicht über meine Wangen, flüstert mir etwas ins Ohr. Was ich höre, ist mein eiserner, scharfer Schrei, der die Stille zerschneidet. Tränen laufen mein Gesicht hinab, bilden Risse in meine Haut, zersplittern mein Inneres. Nicht Traurigkeit ist es, das mich erfüllt. Etwas Schweres drückt auf mein Herz, droht es zu zerbrechen, doch dieses etwas ist Leere. Ich bin nicht traurig, nicht wütend, auch nicht alles zusammen, ich bin nichts von alldem, einfach nur leer. Und es ist kein schönes Gefühl. Ich fühle mich so wie die Landschaft um mich. Sie ist still und ich leer. Und die kleine angenehme Stille, in der man sich geborgen fühlt, sie strahlt Einsamkeit aus, keinen Trost, sie ist kälter wie der Schnee und schenkt mir keine Hoffnung. Es trifft mich nicht zaghaft, sondern ganz abrupt und fest wie ein kalter Schlag mitten ins Gesicht, aber in gewisser Weise hatte es auch etwas Warmes an sich und erinnerte mich an die Zeiten, als ich glücklich war.
Breit grinsend stehe ich auf dem weißen, wie mit Zuckerguss verziertem Feld. Der Schnee liegt wie eine weiche, flauschige Decke über den Gräsern und die Spuren, die es zeichnen, erinnern mich an eine Schlittenfahrt. Einzelne Schneeflocken segeln herab und landen zielsicher auf meiner erröteten Nasenspitze. Meine schmuddeligen, altersschwachen Stiefel bahnen sich mühselig einen Weg durch die fluffige Schneedecke. Etappenweise bewegt sich mein von Sinnen überwältigter Kopf durch die Gegend, kostet Düfte verschiedenster Art aus und unzählige Bilder speichern sich in meinem Gedächtnis ab. Sonnenstrahlen dringen – einigen gelang es, anderen wiederum nicht – durch die verwinkelten, von Eis überzogenen Äste. Stille, einfach nur Stille, nichts Anderes kann von meinem Körper nunmehr Besitz ergreifen. Doch plötzlich erfüllt es mich mit Wärme, als würde ich in einem vom Kamin beheizten Raum sitzen und genüsslich an einem glühenden Punsch schlürfen.