Gastkommentar

Rolf Jucker, Geschäftsleiter der Stiftung SILVIVA, im Gespräch mit PH-WIR über das Projekt „Draußen unterrichten“, die Vorteile eines Outdoor-Unterrichts und die Kooperation mit der PPH Burgenland

PH-WIR: Rolf Jucker, sie sind ein international tätiger und gefragter Experte im Bereich Bildung für nachhaltige Entwicklung. Was waren Ihre Beweggründe, gerade mit einer Pädagogischen Hochschule aus Ostösterreich zu kooperieren?

Rolf Jucker: Die bereits bestehende Kooperation von PPH Burgenland und Naturpark Österreich war Basis des Kennenlernens, und schnell haben sich gegenseitige Lern- und Kooperationsmöglichkeiten aufgetan. Die PPH Burgenland hatte bereits ein ausgearbeitetes Programm „Lernraum Natur“, SILVIVA hatte dafür das passende Lehrpersonen-Handbuch sowie ein schweizweites Projekt, welches die systemische Verankerung von regelmäßigem „Draußen unterrichten“ in der Schule beabsichtigt. Damit Kooperationen wirklich fruchtbar werden, muss gegenseitige Offenheit, ein Bestreben, Nägel mit Köpfen zu machen, sowie ein unkompliziertes persönliches Verständnis vorhanden sein – all dies ist hier der Fall.

PH-WIR: Ist die Kooperation mit der Publikation des Praxishandbuches „Draußen unterrichten“¹ nun bereits abgeschlossen?

Rolf Jucker: Diese Kooperation ist für uns von großer Bedeutung, die Buchpublikation nur der Beginn. Wir sind bestrebt, „Draußen unterrichten“ qualitativ hochwertig und möglichst breit in der Volksschule in der Schweiz zu verankern. Da sind die Qualifizierung von Lehrpersonen und der Kompetenzaufbau von Dozierenden der Pädagogischen Hochschulen von zentraler Bedeutung. Wir sind in der Schweiz dabei, dies mit einem Forschungsprojekt, an dem deutsch- und französischsprachige Pädagogische Hochschulen teilnehmen, besser zu verstehen und zu fördern. Die PPH Burgenland hat da einen deutlichen Wissens- und Erfahrungsvorsprung – hier haben wir ein hohes Lerninteresse. Für uns ist aber auch der Erfahrungsaustausch über die Landesgrenzen wichtig.

PH-WIR: Welche Erfahrungen machen Sie in der Schweiz mit „Draußen unterrichten“?

Rolf Jucker: Verglichen mit Ländern wie Dänemark ist die Schweiz erst ganz am Anfang. Wir haben eine starke Tradition von Waldkindergärten in der deutschsprachigen Schweiz, weniger im französischen Sprachraum. Die Idee des lehrplanbezogenen, wöchentlichen draußen Unterrichtens in allen Fächern der Primarschule ist neu. Wir spüren aber ein großes Interesse. Es leuchtet allen Beteiligten ein, dass das eine sinnvolle Sache ist – nicht nur, weil es als Covid19-Maßnahme einige Probleme von Schulzimmern löst. Das erwähnte Forschungsprojekt mit der PH ist hier ein Meilenstein.

PH-WIR: Worauf sollte man beim „Draußen unterrichten“ besonders achten?

Rolf Jucker: Wir merken immer deutlicher, dass ein systemischer Ansatz für langfristige Wirkung zentral ist. Je mehr Systemebenen wir von der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit von „Draußen unterrichten“ überzeugen können, desto eher werden wir unser Ziel einer flächendeckenden Umsetzung erreichen. D.h., es braucht nicht nur Weiterbildungen für Lehrpersonen, sondern eben die Qualifizierung derer, die diese Lehrpersonen aus- und weiterbilden. Es braucht nicht nur Kurse für Schulteams, sondern öffentlichkeitswirksame Berichte und Kampagnen, die die Eltern, Bildungspolitiker_innen und Entscheidungsträger_innen davon überzeugen, dies zu unterstützen. Und es braucht weiters auch eine Qualifizierung der außerschulischen Anbieter im Bereich Lernen in und mit der Natur, damit diese die Bedürfnisse und Nöte der Schulen deutlich besser verstehen.
Übersetzt heißt dies, dass wir breite Partnerschaften und Kooperationen brauchen, um unserem Ziel näher zu kommen.

PH-WIR: Warum „Draußen unterrichten“ fördern?

Rolf Jucker: Es gibt mittlerweile durch Untersuchungen gestützte Erkenntnisse, die belegen, dass Lernen in der Natur Wirkung zeigt. Für uns sind dabei zwei Dinge zentral: Einerseits scheint mittlerweile klar, dass Kinder und Lehrpersonen auf unterschiedlichen Ebenen profitieren. „Draußen unterrichten“ befördert die kognitive, emotionale, soziale, kreative und gesundheitliche Dimension. Das soziale Vertrauen zwischen Lehrpersonen und Schüler_innen, aber auch zwischen Schüler_innen untereinander ist eine zentrale Voraussetzung, dass Lernen gut funktionieren kann. Und hier wissen wir, dass dies durch „Draußen unterrichten“ bzw. „Draußen lernen“ gestärkt wird.
Für uns ist aber auch der Naturkontakt wichtig. In Zeiten von Klimawandel und Biodiversitätsverlust ist es essentiell, dass Kinder und Lehrpersonen Naturvertrautheit, Naturverständnis und ein vertieftes Verständnis der Mensch-Naturbeziehung gewinnen. Das gelingt draußen in der Natur, in realen, dynamischen, komplexen Lernsituationen ebenfalls besser.
Ein ganz wichtiges Element ist die Qualität des Unterrichts. Der kann drinnen wie draußen gut oder schlecht sein. Und diese Dimension ist bisher nur ungenügend erforscht. Deswegen sind wir auch auf verschiedenen Ebenen daran, neue Forschungsprojekte zu initiieren, um diese Forschungslücken zu füllen.

PH-WIR: Was können Sie uns über Ihre internationalen Erfahrungen in Bezug auf „Draußen unterrichten“ berichten? Haben die nationalen Bildungssysteme in Wirklichkeit nicht ganz andere Sorgen (Stichwort PISA Testungen)?

Rolf Jucker: In der traditionellen Bildungspolitik ist „Draußen unterrichten“ leider oft nur ein Randthema. Wenn man sich überlegt, welche Kompetenzen sich die Entscheidungsträger_innen von morgen in der Schule erarbeiten sollten, um mit Herausforderungen wie dem Klimawandel konstruktiv umgehen zu können, dann merkt man schnell: Es braucht komplexes Realweltlernen, wie es draußen möglich ist. Hier ist die Erfahrung von Dänemark interessant. Verschiedene Schulen, die sich „Draußen unterrichten“ auf die Fahne heften, haben festgestellt, dass dadurch die gesamte Schule angeregt wurde, nochmal grundsätzlich über Ziele, Werte und pädagogische Methoden nachzudenken.

PH-WIR: Was ist Ihre Vision in Bezug auf Ihre Arbeit für 2030?

Rolf Jucker: Bis 2030 müssten wir es schaffen, dass jedes Schulkind in der Schweiz wöchentlich mindestens einen Tag draußen unterrichtet wird. Die PPH Burgenland kann in Österreich eine ähnliche Katalysatorenfunktion übernehmen – mit Hilfe des Praxishandbuchs erst recht. Wir werden gemeinsam intensiv daran arbeiten, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen.

PH-WIR: Danke für das Interview!


¹Das Praxishandbuch „Draußen Unterrichten“ stellen wir Ihnen als Tipp des Monats vor.