Literatur im Zeichen der Pandemie
Seit geraumer Zeit scheint die Welt nicht mehr so, wie sie vor kurzem noch war. Gewohntes hat sich so stark verändert, dass die „neue Normalität“ tief in unseren Sprachgebrauch eingedrungen ist. Im Zuge der neuen Situation hat sich innerhalb eines Jahres auch der Blick auf die Welt geändert.
Nimmt man die Bestimmung von Paul Ricoeur der Literatur als „Laboratorium an Möglichkeiten“ ernst, dann hätte Literatur gerade in dieser Zeit auch etwas zu sagen, würde neue Möglichkeiten aufzeigen. Ist das auch so? Diese Frage wurde der Master-Lehrveranstaltung „Literaturdidaktik“ vorangestellt, um sie in Texten von Adalbert Stifter, Albert Camus, Philip Roth und Jose Saramago komparatistisch auszuloten.
Es ist erstaunlich, wie feinfühlig, aber nicht minder tief- wie abgründig Schriftsteller eine epidemische Situation in ihren unterschiedlichen Facetten ausloten. Im Vergleich zur aktuellen Situation werden zwei wichtige Unterschiede deutlich: Einerseits nehmen die Ausmaße in den Texten kein derart starkes globales Ausmaß an, das Ausmaß bleibt epidemisch; andererseits wird die soziale oder individuelle Handhabe der Situation auf je unterschiedliche Art und Weise drastisch angezogen.
Zum Beispiel „Nemesis“: Hier platziert Philip Roth den Sportlehrer Bucky Cantor als Verantwortlichen für die Freizeitbetreuung von Schülern in den Mittelpunkt des Geschehens. Berichtet wird aus der Sicht eines unparteiischen Ich-Erzählers, der sich am Ende als einer dieser Schüler entpuppt, wie eine Polio-Epidemie um sich greift und dabei eine Tragödie ihren Lauf nimmt.
In einer mit vielen kleinen Wendepunkten erzählten Geschichte adressiert der Protagonist seine Klage an Gott: Wenn es einen Gott gibt, warum lässt er dann zu, dass seine Schüler durch Polio aus dem Leben gerafft werden? Die Frage ist weniger Klage denn vielmehr Anklage und richtet sich letztlich gegen ihn selbst. Gegen Ende des Textes begegnet der Ich-Erzähler dem gealterten Protagonisten, der selbst zum Überträger geworden ist und damit bis zuletzt haderte.
Am Schluss steht neben dem Zürnen ein ausführlich skizziertes Bild des Speerwurfs. Wie beim Sport allgemein komme es auf Entschlossenheit, Hingabe und Disziplin an. Damit könne man ehrgeizige Ziele erreichen. Dieses Schlussbild ließe sich auf die epidemische Situation übersetzen, denn einem disziplinierten Zusammenspiel aller Kraftanstrengungen lassen sich Ziele realisieren. Allein damit kann es gelingen, in einer plötzlichen Epidemie etwas durchzusetzen.
Zusammengefasst auf eine Formel gebracht: Pädagogisches Gelingen als Zusammenspiel von Kraftanstrengungen. Zusammen, Kraft, Anstrengung – drei Wörter, die selten so realitätsnah waren.
Literatur als „Laboratorium von Möglichkeiten“? Literatur als Laboratorium der Realität.