damals heute morgen

Ich kam. Ich saß da. Es war ein großer Raum. Wie überhaupt alles groß war. Ist man klein, wirkt die Welt recht groß. Wenn man neu ankommt, ist alles ungewohnt. Da ich nicht nur klein, sondern der Kleinste war, musste aus heutiger Sicht alles noch größer wirken. Wie sehr das Große erdrücken kann, wurde mir an jenen ersten Schultagen im Gymnasium bewusst. Schließlich spürt man den Sog des Neuen daran, dass die Zeit sich verlangsamt. Damals verging alles wie in Zeitlupe.

Als ich damals ankam, warst du da. Fünf Jahre gingen wir täglich in dieselbe Klasse. Zuerst in den Raum der 1a. Zuletzt zusammen in jenen der 5. Klasse. Du stets als Klassenvorständin, ich als Schüler. Du standest vorne. Ich saß hinten. Zumindest solange, bis du mich nach vorne gesetzt hast. Diese Zeit war eigentümlich. Sie war bildend in einem umfassenden Sinn, bis heute. So sehr diese Zeit bis heute nachwirkt, so sehr würde ich heute doch auch meinen, dass diese Zeit entlegen ist. Auf der Suche nach ihr fand ich zunächst kaum anderes als eindrückliche Momente. Eindrücke und Spuren – ihnen auf der Suche, frage ich mich nun, welche mich bis heute geprägt haben. Denn diese Spur ist es, die von dir zu mir reicht.

Manch eine Spur ist ganz unbewusst, aber scheinbar nahtlos übergegangen. Es sind oft jene kleinen Rituale, die dem unbestimmten Etwas mehr Gewissheit verleihen. Ihre Konturen habe ich neulich klarer erkannt, als ich meine Schüler aufschreiben ließ, welchen Satz ich gerne sage. Eigentlich war ich auf der Suche nach mir selbst. Ein Satz hat fast das Rennen gemacht: „Wünsche, Beschwerden, Anregungen?“ Der Satz stammt von dir. Er kam damals zu Beginn einer jeden Stunde in unserer Klasse. Der Satz dient mir heute als Auftakt in meiner Klasse. Auf einer kleinen Suche nach mir fand ich etwas von dir.

Was man hinterlassen hat, weiß man erst mit einem gewissen Abstand. Oft bleibt ja nicht nur das bewusst Gesetze, sondern gleichfalls das unbewusst Bewirkte. Als Schüler hätte ich in Mathematik so viel von dir lernen können und sollen – doch stark geblieben ist mir als Klassenvorstand die Trias „Wünsche, Beschwerden, Anregungen?“ Da seitens meiner Schüler genauso wenige Wünsche kamen, wie wir damals an dich richteten, fühlte ich mich spontan dazu veranlasst, über die Wunschlosigkeit zu reden, die zuweilen in das Unglück führen kann. Wunschloses Unglück.

„Gnade vor Recht“ hat das Rennen gemacht. Das stimmt wohl auch. Gerne umkreise ich dann das Gnadenhafte, indem ich zu den Schülern sage: „Was ist Gnade? Du bekommst etwas, wofür du nichts kannst.“ Liebe Inge, du kannst gewiss nicht nichts, die doppelte Verneinung hebt sich nicht nur auf, nein, man sollte sagen, du kannst viel und mehr. „Was ist Gnade? Etwas, das du dir nicht verdient hast, das du aber trotzdem kriegst.“ So lautet dann meist mein zweiter Nachsatz. Aber Inge, du hast viel geleistet. So viel geleistet, wozu dann noch Wünsche?

Weil sich ein Wunsch über die unmittelbar gegebene Zeit hinaus auf ein unbestimmtes Morgen zubewegt und sich manchmal auf ganz Fernes richtet. Möge er dein steter Begleiter sein. Hin auf ein Morgen, für das du (noch) nichts kannst, das dir aber umso größere Offenheit gewährt. Ein Morgen, das dir erlaubt, nochmals unbekannte Punkte auf deiner Lebenskarte einzuzeichnen.

„Was also ist Gnade?“, frage ich und kreise es meist in einem dritten Anlauf ein: „Du erfährst einen Zuspruch, mit dem du aber auch etwas anfangen sollst!“ Es ist dieser Zuspruch, den ich dir geben möchte, den Zuspruch, ein unbekanntes Morgen anzufangen.